Männerzeitung #39 vom 01.09.2010

«Männer müssen ihre Interessen wahrnehmen»

Alec von Graffenried im Gespräch mit Ivo Knill

Die Männerbewegung hat einen Mann in Bern: Der Grüne Nationalrat Alec von Graffenried macht Politik für Männer. Leidenschaftlich, geduldig und persönlich.

Alec von Graffenried ist 1962 geboren,Vater von vier Kindern, Nationalrat für die Grünen und Direktor für nachhaltige Entwicklung der Losinger Constructions AG. Er ist aktives Mitglied von männer.ch. Treffpunkt für das Interview ist der Haupteingang zum Bundeshaus. Von Graffenried fährt mit dem Velo vor, wie es sich gehört füreinen grünen und fitten Politiker.

Wir sind hier an der Herzkammer der Politik, hier treffen sich vier Mal im Jahr die Schweizer Volksvertreter und machen Gesetze, die unser Leben und Wirtschaften bestimmen. Wie fühlst du dich hier?

Alec von GraffenriedDas Bundeshaus ist für mich noch immer beeindruckend, imposant, ein wichtiger Ort in und für Bern. Als Nationalrat spüre ich, dass ich hier an der Gestaltung der Schweiz mitwirken kann. Das fasziniert mich.

Politisierst du gerne?

Politik war seit jeher ein Teil meines Lebens, Politisieren ist für mich oft lustvoll, auch wenn es meist nicht lustig ist. Die Politik lässt mich nie los. Wenn ich politisiere, fühle ich mich nahe am Leben. Politik beginnt am Morgen, wenn ich die Zeitung aufschlage und mich über eine Meldung freue und über eine andere aufrege und darüber beim Frühstück zu debattieren beginne. Im Büro, auf dem Velo, in der Beiz – überall sind Themen, die mich packen.

Kann man dich als Mann des Spagats bezeichnen? Du trägst einen traditionsreichen Berner Patriziernamen und engagierst dich links von der politischen Mitte; du bist Grüner Nationalrat und Mitglied eines der grössten Bauunternehmen der Schweiz; dort bist du aber wieder zuständig für nachhaltige Entwicklung. Privat bist du Vater von vier Kindern und beruflich und politisch mit Volldampf unterwegs.

Den Spagat kann ich nicht, der würde mir ja wehtun. Ich schätze vielmehr die Vielfalt, die Abwechslung im Leben; mir scheint, ich kann mich in dieser Vielfalt sehr gut verwirklichen. Ich mag die Extreme, die Herausforderung. Vieles, was gegensätzlich wirkt, befruchtet sich letztlich.

Wie wirst du denn als Grüner in der Grossbaufirma wahrgenommen? Bist du der Ökoexot?

Das Konzept der Nachhaltigkeit ist heute nicht mehr ein linkes Aussenseiterthema, es ist längst ein Grundpfeiler des Wirtschaftens. Klar, man stellt fest, dass ich als Geschäftsleitungsmitglied per Velo zur Arbeit komme und findet es im ersten Moment etwas seltsam. Dann machen wir eine Kampagne «Bike to work» und manch einer entdeckt das Fahrrad als gutes Instrument der Fortbewegung. Anfangs war es für mich schwierig, weil ich mich für alles verantwortlich fühlte, was im Bereich der Nachhaltigkeit noch schief ging im Unternehmen, und da gibts einiges. Heute freue ich mich darüber, was bereits gut läuft, und das ist auch unheimlich viel. Ich sehe, wie es vorwärts geht.

Dann bist du Vertreter eines Trends, der im Kommen ist?

In vielen Bereichen haben sich tatsächlich linke Forderungen der 68er oder 80er Jahre durchgesetzt: Fairtrade zum Beispiel fand damals in Drittweltläden, in einem Keller der Rathausgasse, statt – heute ist es ein Trend, der sich als globales Konzept durchsetzt. Das ist doch toll! Als wir in den bewegten 80ern diesen etwas bitteren Anrührkaffee aus dem Weltladen getrunken haben – hätten wir damals gedacht, dass einmal über 50 % der Bananen im fairen Handel verkauft würden und die Grossverteiler Bioprodukte in ihre Regale stellen würden? Solche Beispiele gibts viele und ich sehe und glaube an die positiven Entwicklungen und Kräfte.

Du bist aktives Mitglied von männer.ch – und damit unser Mann in Bern. Was bringt dich dazu, dich für männliche Anliegen stark zu machen?

Ab und zu ärgere ich mich über den Ton, in dem frech über Männer geurteilt wird. Es gab mal den Spiegel-Titel: «Eine Krankheit namens Mann» – das liessen sich Frauen umgekehrt nie bieten, der Bundesplatz wäre im Nu mit Demonstrantinnen gefüllt. Oder wenn die Wirtschaftskrise als Folge einer männlichen Wirtschaftspolitik dargestellt wird, ist das eine sehr unvollständige Analyse, die auch pauschal das Männliche aburteilt. Es mag sein, dass Risikobereitschaft und Waghalsigkeit männliche Eigenschaften sind, die auch zu Problemen führen. Ohne diese Eigenschaften würden wir aber vielleicht noch in den Höhlen am Feuer sitzen und es gäbe viele Dinge nicht, auf die Männer und Frauen gerne zurückgreifen. Zudem zementieren solche Vorwürfe genau die Rollenbilder, die wir aufweichen wollen. Diesem Schnellurteil möchte ich etwas entgegensetzen.

Das ist eher ein Stachel als ein Antrieb!

Blosser Ärger bringt tatsächlich nur selten weiter. Ich lerne sehr viel von meiner Frau. Als wir uns vor 15 Jahren begegnet sind, habe ich mich ihr gegenüber als Feminist zu erkennen gegeben. Sie lachte mich deswegen aus; heute erinnern wir uns daran als running gag. Die Frauen könnten schon selber für ihre Rechte einstehen, meinte sie. Sie hat mich stattdessen dazu motiviert, darüber nachzudenken, wofür ich als Mann stehe. Sie liebt und schätzt mich ja nicht nur meiner «mütterlichen» Anteile wegen, sondern vor allem auch wegen dem, was ich als Mann bin. Der Dialog zwischen den Geschlechtern gewinnt doch gerade dadurch, dass Männer ein positives, eigenständiges Männerbild entwickeln, eines, das Männlichkeit nicht in Abgrenzung vom Weiblichen definiert, sondern als etwas Eigenes. Wenn ich «Männerpolitik» mache, setze ich mich dafür ein, dass Männer sich als Männer entfalten können.

Was sind denn typisch männliche Eigenschaften?

Na ja, das ist eher schwer in wenige Worte zu fassen, ohne in Schlagworte zu verfallen. Machen, anstatt abzuwarten, Initiative entwickeln, Unabhängigkeit anstreben; Bereitschaft, etwas zu riskieren. Aber auch strukturieren, organisieren.

Männer denken ja sehr häufig dann über ihre Rolle nach, wenn sie selber im familiären Umfeld grosse Umbrüche erlebten. Ging es dir auch so?

Eindeutig ja. Ich verlor schon sehr früh in meiner Kindheit meinen Vater, wenige Jahre später noch meine Mutter. Familiäre Geborgenheit ist mir deshalb ein grosses Bedürfnis. Mit den eigenen Kindern kam dann die Gelegenheit, mich auch mit meiner eigenen Kindheit auseinanderzusetzen, vielleicht auch manches nachzuholen, was mir als Kind gefehlt hat. Als die Kinder eins und vier waren, verliess mich meine erste Frau und wir trennten uns. Auch das wurde zu einer Schlüsselerfahrung für mich. Wir blieben aber verheiratet und wohnten sehr nahe beieinander. Ich blieb ein aktiver Vater, die Kinder wohnten fast zu 50 % bei mir. Erst sieben Jahre später, im Jahr 2000, haben wir dann die Scheidung vollzogen, weil erst ab diesem Zeitpunkt die gemeinsame elterliche Sorge möglich war. Bei der Scheidung war es dann meine Frau, die die gemeinsame Sorge auch von mir einforderte. Nun bin ich ein zweites Mal verheiratet und lebe eher das klassische Modell. Biographisch habe ich also einen sehr engen Bezug zu der Frage, wie Väter Familie leben – und einen grossen Respekt davor, wie vielfältig sie es tun!

Als Nachfolgerin für den zurücktretenden Bundesrat Leuenberger sind mit Simonetta Sommaruga und Jacqueline Fehr zwei Frauen im Gespräch: Der Bundesrat könnte erstmals in der Geschichte mehrheitlich weiblich sein. Stehen wir vor einer Wende zu einer von Frauen geprägten Politik? Oder sind wir endlich im Alltag Gleichstellung angekommen?

Eine allfällige Frauenmehrheit im Bundesrat wäre eher die Folge zufälliger politischer Konstellationen, kein Systemwechsel. Im Alltag der Gleichstellung sind wir damit bestimmt nicht angekommen. Da gibt es noch viele Fragen zu diskutieren – etwa die Vertretung der Frauen in Verwaltungsräten. Mir scheinen aus Männersicht ganz andere Bereiche sehr viel wichtiger als die Zahl der Bundesrätinnen: Wenn schon frage ich mich, ob wir in der Bildung beide Geschlechter angemessen berücksichtigen. Der sinkende Anteil von männlichen Maturanden, der übergrosse Anteil von Knaben in den unteren Bildungsbereichen, der drastische Mangel an männlichen Lehrkräften – da müssen wir hinschauen, Problembewusstsein wecken. Wir müssen Wege finden, dass wieder Männer Lehrer werden und wir müssen überprüfen, ob die Ausbildung noch bubengerecht ist.

Am diesjährigen Vätertag hast du eine Motion mit folgendem Titel eingereicht. «Väter in die Pflicht nehmen: Unterstützung und Begleitung von Vätern als Massnahme zur Integration und zur Jugendgewalt-Prävention» – was bezweckt diese Motion?

In der Diskussion um Jugendgewalt und Migration sind Väter neu zu entdecken – und zwar als Teil zur Lösung des Problems. Man stellt heute fest, dass Väter aus anderen Kulturen mit ihrem hergebrachten Rollenverständnis in der Schweiz scheitern. Sie fallen regelrecht aus ihrer Rolle und schaffen es nicht, diese neu zu finden. Die Motion bezweckt, bei der Wahl von Massnahmen gegen Jugendgewalt statt vieler anderer auch Programme zu fördern, die auf die Unterstützung der Väter zielen. Sie sollen darin bestärkt werden, ihren Beitrag für ein gelingendes Familienleben zu finden und zu leisten.

Als Mitunterzeichnende sind ausschliesslich Männer aufgeführt: Toni Bortoluzzi, Antonio Hodgers, Filippo Leutenegger, Roger Nordmann, Andy Tschümperlin, Reto Wehrli. Prominente Namen, unter ihnen auch konservative, wie Bortoluzzi und Filippo Leutenegger.

Ja, natürlich, ich habe diese Männer auch sehr gezielt angesprochen. Wir wollen ja gerade Männer aus verschiedenen politischen Lagern für dieses Anliegen gewinnen. Wir müssen unsere Interessen als Männer selber wahrnehmen und dürfen nicht darauf warten, dass die Frauen für uns Männerpolitik machen. Es auch wichtig, die Frauen für Männeranliegen zu gewinnen. Das ist gar nicht so schwierig, denn meistens überschneiden sich Interessen von Männern und Frauen.

Hast du Verbündete? Wirst du als Vertreter einer Männerpolitik wahrgenommen?

Letzteres mit Sicherheit noch nicht. Es gibt ein noch recht loses Netz, aber es muss ganz eindeutig noch stärker werden. So gab es Vorstösse zum Vaterschaftsurlaub von Roger Nordmann und Antonio Hodgers, aber ohne vorausgehende Absprachen. Ideal wäre daher der Aufbau einer parlamentarischen Gruppe. Vorderhand knüpfen wir diese Netzwerke nach Möglichkeit und von Fall zu Fall. In der bevorstehenden Debatte um die gemeinsame elterliche Sorge wird sich wieder ein Netz bilden lassen, darauf könnte später aufgebaut werden.

Der Gesetzesentwurf zum neuen Sorgerecht sieht nach einer Scheidung die gemeinsame Sorge als Normalfall vor. Bist du zufrieden mit diesem Gesetz?

Es ist ein Schritt in die richtige Richtung zur rechten Zeit. Das alte Scheidungsrecht und Kindsrecht wurde in einer Zeit gemacht, als die Scheidungsrate vielleicht bei 5 % lag; Scheidungen waren Ausnahmeerscheinungen. Heute tendiert die Scheidungsrate gegen 50 % und das Recht muss auf diese Entwicklung angemessen reagieren. In Fachkreisen – unter Gerichten und in der Anwaltschaft – sind die Schwächen des gegenwärtigen Gesetzes offenkundig: Es kann von Müttern missbräuchlich eingesetzt werden.

Konntest du in der Vernehmlassung Einfluss auf den Entwurf nehmen?

Ich habe bei den Grünen auf eine wohlwollende Vernehmlassung zum Entwurf des Bundesrates hingewirkt. Es war auch hilfreich, dass Männerorganisationen wie gecobi einen sachlicheren Ton angeschlagen haben. Polemik und Revanchismus schaden in der gegenwärtigen Debatte.

Unbefriedigend bleibt die Lage für unverheiratete Väter. Sie erhalten das gemeinsame Sorgerecht nicht im Normalfall. Deutsche Väter haben bereits erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof gegen diese Ungleichbehandlung von verheirate- ten und unverheirateten Vätern protestiert. Steht Ähnliches auch in der Schweiz bevor?

Das Gesetz ist ja noch nicht beschlossen, die Debatte muss noch zu Ende geführt werden. Der Verzicht auf das gemeinsame Sorgerecht als Normalfall bei unverheirateten Eltern ist vielleicht der Preis, überhaupt eine Annahme zu erreichen. Es lässt sich eben auch nicht von der Hand weisen, dass es bei unverheirateten Eltern Konstellationen gibt, wo die gemeinsame Sorge überhaupt nicht nahe liegt.

Gibst du dem Gesetz in der bevorstehenden Debatte gute Chancen?

Warten wir es ab! Noch ist die Debatte nicht gewonnen. Ich hoffe, es kommt zu keinen unheiligen Allianzen zwischen Konservativen, die gar nichts wollen, denen, die noch weiter gehen möchten und extremen Frauenrechtlerinnen, die nur die Probleme der gemeinsamen Sorge sehen.

Die Schwierigkeiten einer gemeinsamen Sorge sind ja ein Hauptargument gegen das neue Modell.

Natürlich schafft ein geteiltes Sorgerecht Probleme und Diskussionsbedarf; Eltern, die vielleicht schon während der Ehe nicht gut zu Gange kamen, müssen nun auch nach der Scheidung weiter miteinander kutschieren. Das ist nicht einfach. Aber es bietet eben auch einen grossen Gewinn: Die Kinder behalten zwei Bezugspersonen. Wir haben das patriarchale Familienmodell abgeschafft, weil wir Gleichberechtigung in der Familie wollten. Wir sollten diese Gleichberechtigung auch nach einer Scheidung beibehalten.

Wann werden wir in der Schweiz einen Vaterschaftsurlaub einführen?

Die Zeit für einen Vaterschaftsurlaub wäre jedenfalls reif; bei uns in der Firma haben wir zwei Wochen eingeführt; vielleicht muss man auch neu ansetzen, neue Modelle im Sinn von Elternschaftsurlaub, statt einer Neuauflage der gleichen Forderung.

Wird Politik für Männer eine Konjunktur erhalten? Erleben wir nächstens eine Gleichstellungsbewegung für Männer? Möchtest du das?

Ich hoffe natürlich, dass mehr Bewusstsein und Normalität in die Diskussion kommt. Wir müssen Geschlechterfragen als einen Aspekt der Politik immer mit bedenken – sei es in Gesundheits-, Bildungs- oder Familienfragen. Dass nun aber eine Debatte über Diskriminierung der Männer anbricht – darauf habe ich eigentlich keine Lust. Geschlechterfragen sollten positiv und wertschätzend angegangen werden.

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