Männerzeitung #41 vom 01.03.2011

«Knabenfigur mit grossen Brüsten»

von Stefan Eigenmann

Ob sich der folgende Streit zwischen Guido und seiner Frau so oder ähnlich zugetragen hat, spielt keine Rolle. Wesentlich scheint mir viel mehr das Risiko, welches Sie eingehen, wenn Sie weiterlesen, weil Sie die Frage am Schluss ebenfalls quälen könnte.

Also: Guido liegt mit seiner Frau nackt im Bett. Sie hören sich entspannt die Musik zu dem Film «Ashes and Snow» an. Sie hat die Augen geschlossen. Er beobachtet den tanzenden Lichtkegel, den die flackernde Kerze an die Decke wirft. Guido geniesst die Leichtigkeit des Seins nach erfüllendem Sex. «Schatz, was meinst du», fragt seine Frau urplötzlich und aus Gründen, die für Guido auch in hundert Jahren nicht nachvollziehbar sein werden, «wirst Du mich auch dann noch lieben, wenn ich ein paar Kilo an Gewicht zulege?»

Die Stimmung verändert sich abrupt und Guido ist sofort hellwach. Er merkt in Sekundenschnelle, wie er gegen den Eindringling in sein Gemüt keine Chance hat. Instinktiv erfasst er die bedrohliche Tragweite dieser heimtückischen Fangfrage. Er fühlt sich in die Enge getrieben, weil er um die zwei Seelen in seiner Brust weiss. Würde er sich von seiner Frau abwenden, nur weil sie an Gewicht zunimmt? Wäre das nicht total verwerflich, mies und primitiv? Andererseits beneidet er zuweilen reife Männer mit jüngeren, attraktiven Frauen an ihrer Seite. Er erlaubt sich dann vorzustellen, wie es wäre, leidenschaftlichen Sex mit einer solchen Frau zu erleben. Konnte er es wagen, seiner Frau auch diese Seite von ihm zu offenbaren?

Gestresst von dieser Situation verfällt er in Trotz. Er stürzt sich fatalistisch ins Chaos und entscheidet sich für eine Provokation. «Nein!», antwortet er wagemutig und beendet die atemlose Stille jäh. Darauf setzt sich seine Frau energisch im Bett auf und zündet die Nachttischlampe an. Mit gepresster Stimme fährt sie ihn an: «Was? Das ist ja wohl die Höhe! Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du auch zu der einfach gestrickten und unterentwickelten Sorte Männer gehörst, die eine reife Frau wegen einer jüngeren verlassen, nur weil die eine Knabenfigur mit grossen Brüsten hat?»

(Guido weiss, woher seine Frau den Ausdruck «Knabenfigur mit grossen Brüsten» hat. Er stammt aus dem Roman «Ein wahrer Kerl» von Tom Wolfe. Das Buch hat er ihr neulich geschenkt, nachdem er es zuerst selber gelesen hatte.)

Guido beschliesst, strategisch vorzugehen und erst einmal zu schweigen. Schliesslich nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und blickt seiner Frau geradewegs in die Augen. So wird er Zeuge, wie die Gedanken in ihrem Kopf unkontrolliert hin und her schlagen und sich zu einer monumentalen Überzeugung auftürmen. Mit den Händen ringend schreit sie ihn schliesslich lauthals an: «Du bist gemein!» Dann überkommen sie die Tränen.

Nun klopft Guidos Herz heftig. Nervensystem und Hormone schalten auf Verteidigung und er spürt einen heftigen Schwall Aggressionen innerlich hochschiessen. «Hallo? Jetzt aber mal halblang, ja!», bellt er giftig zurück. Dann fragt er sie gehässig: «Möchtest du etwa ewig und bedingungslos geliebt werden, wie im Märchen?» Guido kommt in Fahrt und geht in die Offensive: «Komm wieder herunter von deinem edelmütigen und selbstlosen Ross und mach mir nichts vor. Wenn du an Speck zulegst und haltlos aus den Nähten zu platzen drohst, dann haben wir doch ein Problem. Oder etwa nicht? Angenommen, ich tränke mir umgekehrt eine zünftige Bierwampe an. Würdest du mich dann immer noch uneingeschränkt weiterlieben? Wohl kaum. Wird die Liebe denn nicht auch davon beeinflusst, was wir sehen, riechen, hören oder berühren? Also, ich habe da meine Grenzen.»

Wie von Geisterhand gesteuert geschieht – eine Ewigkeit von ein paar Atemzügen später – dreierlei: Guidos Frau wirft sich mit dem Rücken zu ihm wieder ins Bett und macht das Licht aus, «Ashes and Snow» verstummt und die Kerze erlöscht. Nun scheint alles aus. Guido starrt verzweifelt ins Nichts; sein innerer Rechthaber hat ihn wieder einmal in die Sackgasse manövriert. Und Guido quält eine Frage: Wie würde sich wohl ein wahrer Kerl jetzt verhalten?

Aus dem Raum des Nichtwissens grüsst
Stefan Eigenmann

Kommentare

3 Kommentare vorhanden

Marianne Huber schrieb am 19.04.2013 - 14:35

Kilos zuviel

Nein, nein, die Frage stresst nicht. Noch ein paar Jährchen, vielleicht noch eine Generation und dann wissen auch alle Männer, warum die Frage auftaucht, so deplaziert sie auch immer im beschriebenen Kontext noch scheinen mag. Was beide vielleicht oder eben erst dann überlegen, wie kann die Frage in diesem Kontext erst gar nicht notwendig werden oder gar den schönen Sex verderben. Die Frage ist berechtigt (siehe Guidos Gedanken), die Antwort schon vorbereitet (ebenfalls Guidos Gedanken), aber die Frage wird von seiner Frau in einem Kontext gestellt, wo Guido sich kaum trauen wird, ehrlich zu antworten, sie wird so gestellt, weil die Antwort nicht gehört werden will. Intimität? Ja, aber bitte nur wenn's runtergeht wie Honig.

Petra Mayer schrieb am 07.12.2012 - 08:55

Kilos zuviel

Einmal anders gedacht: Schatz, würdest du mich noch lieben, wenn ich nach einem Autounfall eine Nerbe im Gesicht hätte, krebskrank wäre, nach einem Schlaganfall meinen Arm nur noch eingeschränkt bewegen könnte ... ... nein, denn ich träume von einem sportlichen jungen Mann mit ausreichender Alleinernährerpotential ??? Übrigends ist es gesund z.B. in den Wechseljahren ein paar Pfund zuzulegen, um den Östrogenhaushalt zu regulieren ... Aber die Geschichte spielt ja im Bett, nach dem Sex, und woran man da so denkt ...

David Brunner schrieb am 03.06.2011 - 20:44

Kilos zuviel

Warum wird, ist, bleibt jemand übergewichtig? Ich denke, dass es selten rein medizinische Gründe sind, sondern vielmehr charakterliche. Die Achtung und Pflege von Körper und Gesundheit hat viel mit Selbstwert zu tun. Wenn andererseits eine Beziehung stimmt, dann sollten ein paar Kilos an der Liebe nichts ändern. Trotzdem scheint mir die Antwort von "Guido" ehrlich und richtig. Hätte er in der Geschichte "ja" gesagt, hätte seine Frau sich womöglich über Gleichgültigkeit und mangelnde Wertschätzung ihrer aktuellen Figur beschwert.

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